Über ihre Arbeiten…

Annu Koistinen ist in Finnland geboren und in der kleinen Stadt Varkaus im wald- und seenreichen Osten des Landes aufgewachsen. Die Weite der kargen Landschaft, die Farben von Wasser, Wald und Felsen haben sich tief in ihre Erinnerung eingegraben, ebenso wie die langen schneereichen Winter und die besonderen Lichtverhältnisse von gleißenden Sonnentagen bis hin zum Zwielicht der Mittsommernächte. Die Eindrücke dieser ersten Lebensjahre, die Landschaft und die nordischen Lichtverhältnisse, bestimmen bis heute ihre Arbeit.

Finnischer Tango

Mit zwanzig Jahren ist Annu Koistinen nach Düsseldorf gekommen. Größer hätte der Wechsel nicht sein können. Lebensumstände und Sprache waren völlig andere und machten sie für einen kurzen Moment stumm. An der Düsseldorfer Kunstakademie studierte sie bei den Professoren Beate Schiff und Günter Grote Bildhauerei und Malerei, begleitend dazu Kunstgeschichte, Philosophie, Pädagogik und Textilgestaltung. Danach entschied sie sich, Kunsterzieherin zu werden, parallel dazu führte sie ihre freie Arbeit kontinuierlich fort. Heute pendelt sie zwischen ihrem Atelier in Rommerskirchen-Nettesheim und ihrer Heimat Finnland.

Annu Koistinens Werk ist keine Kunst, die sich selbstreferentiell um sich selbst dreht, ebenso wenig ist sie an einer illusionistischen Malerei interessiert. Zwar ist die Natur ihr Ausgangspunkt, aber Annu Koistinen bildet sie nicht in naturalistischer Weise ab. Vielmehr verleiht sie den individuellen Stimmungen und Bildern einer inneren Welt, die sich stetig im fantasievollen Prozess durch Kontakt und Austausch mit der Außenwelt zu einem komplexen und unverwechselbaren Universum ausbildet, in ihrer Kunst Ausdruck. In dieser Art ist die reale Welt in ihren Arbeiten präsent.

 

Abendstunde

Wenn Annu Koistinen also Landschaften malt, dann handelt es sich nicht um Nachbildungen der äußeren Welt, sondern um gestaltete Wahrnehmung. Denn zur Landschaft steht der Betrachter, und insbesondere der Maler, immer in einem Verhältnis, das kulturell und individuell geprägt ist. „Vieles hat seinen Ursprung in realen Szenen, ist aber verwandelt durch das Medium der Erinnerung und wird erneut abgerufen durch die sinnliche Erfahrung des Materials“, sagt Annu Koistinen.

Es scheint so, dass dieser Austauschprozess von Innen und Außen, von unbewussten Phantasien und äußerer Welt, Annu Koistinen nicht nur antreibt, sondern dass sie ihn auch zu ihrem Thema macht. Material und Arbeitsweise spielen dabei eine ganz entscheidende Rolle: Die Oberflächen ihrer Bilder und Objekte spannen sich wie die Haut gleichnishaft zwischen innen und außen. Haut ist der nach außen sichtbare Repräsentant des Körpers und zugleich Seelenspiegel, eine Fläche, auf der sich das Sein einer Person manifestieren kann. So entsteht eine Verknüpfung von Selbst und Haut. Die Leinwand oder der Grund wird zu einer semantisierbaren Fläche, auf der sich das Individuelle abbilden kann. Aber die Leinwand ist eben nicht die eigene Haut, sondern ihr Repräsentant, durch diese kleine Differenz bietet das Bild dem Selbst die Möglichkeit, sich aus der Distanz zu betrachten.

 

Zauberberg

Nichts ist subjektiver und einzigartiger als die Haut. Sie ist das größte Sinnesorgan und reagiert nicht nur auf von außen auf sie eindringende Berührungen und Reize, sondern auch innere Erregungszustände und Vorgänge im Körperinneren lassen sich ablesen. Ein Erlebnis hinterlässt Narben, geht unter die Haut oder lässt sie erröten. Die Haut verdeckt und verbirgt, um gleichzeitig einen inneren Raum zu eröffnen – so wie auch das Bild. Es scheint, als ob Annu Koistinen durch die gestaltende Bearbeitung der Oberflächen diese Begegnung mit der Welt symbolisch wiederholt und damit ausdrückt, was sie sinnlich erfahren hat. (Eine ästhetische Wirkung ist ihr dabei weniger wichtig als zu zeigen, was sich ihr eindrücklich `eingebrannt ́ hat.)

Haut ist eine Landschaft, die die Geschichte eines Lebens erzählt. In ihr drücken sich Lebendigkeit und Wechsel aus, die Individualität ausmachen. Dementsprechend erfolgt die gestalterische Arbeit bei Annu Koistinen als spontaner, freier Prozess mit ungewissem Ausgang. Die Oberflächen sind Ereignishorizonte, auf die Malmittel in Schichten aufgetra- gen werden, um danach durch Kratzen, Schleifen, Spachteln, Wischen – zum Teil bis auf die Unterlage – wieder abgetragen zu werden. Falten, Flecken, Narben und Verletzungen bleiben als Spuren davon sichtbar. Farbe bedeutet ihr nicht nur einen Farbwert, sondern sie ist Masse, die die Oberfläche strukturell erweitert. So arbeitet sie sich quasi durch das Material hindurch zum eigentlichen Bild vor.

 

Grauer Tag

Das vehemente Vorgehen ähnelt eher dem plastischen Gestalten einer Bildhauerin als dem einer Malerin, entsprechend entstehen auch keine illusionistischen Räume, sondern mit dem Auge abtastbare farbige Topographien.

Materialien unterschiedlichster Beschaf- fenheit treffen dabei aufeinander und reagieren miteinander. Manches stößt sich ab, lässt Malmittel abperlen, anderes verdichtet sich und einsetzende Trocknungsvorgänge bewir- ken, dass Krusten aufsplittern, schuppen und bröckeln. Die Leinwand scheint ein lebendi- ges Wesen, fungiert als Abbildfläche für das Eigentliche.

 

„Ich begnüge mich nicht mit der Farbe, wie es die Aquarell- oder die Ölmalerei traditionel- ler Weise tun, sondern bediene mich der Farbigkeit und der Strukturen unterschiedlicher Materialien, die den Betrachtern der Bilder und Objekte auch dann einen sinnlich-hapti- schen Eindruck vermitteln sollen, wenn sie sie nicht berühren“, beschreibt Annu Koistinen ihr Vorgehen.

Ebenso wenig wie ihre Landschaften Abbilder sind, sind es ihre menschlichen Gestalten. Sie zeigt sie bewusst abstrahiert und entindividualisiert in existenziellen menschlichen Situ- ationen, die auf der Reise zwischen Geburt und Tod jeder erfährt. Räume – mal weit, dann wieder bis auf ein Minimum geschrumpft – umfangen die Figuren und setzten die Parameter des Seins. Neben dem einzelnen Individuum ist das Paar in seinen wechselnden Konstellationen das zentrale Thema bei Annu Koistinen.

Dialog

„Der Mensch ist in allen meinen Arbeiten präsent, denn es sind seine Eindrücke, die gestal- tet werden.“

Der Übergang vom Bild zu Kollage, Assemblage und Objekt ist bei Annu Koistinen glei- tend. Es kann der leere Rücken eines Malblocks sein, an dem vom Klebstoff gefangene Papierreste den Anstoß zu einer rudimentären Landschaft geben, oder die zersplitterte Rückwand einer alten Ikone, die durch ihr staubiges Alter zu einer Ödlandschaft führt. Annu Koistinen lässt sich von Oberflächen und der Stofflichkeit von „verbrauchten“ Materi- alien verführen. Es sind Dinge des Alltags wie z.B. Pappe, Tapete, Verpackungsfolie, Karton, Holz, Linoleum, Asche, Leim, Haare, Vlies, Filz oder Sand.

Vor allem ist es immer wieder Papier, das zum Einsatz kommt. Zerknittert, gerissen, ge- schnitten oder als Stück von irgendetwas abgetrennt, erfährt es, neu auf der Fläche arran- giert, ein zweites Leben als Landschaft, Haus oder Profil. Bedruckte oder beschriebene Papiere schätzt Annu Koistinen nicht allein wegen ihrer rhythmischen Struktur. So ver- wandelt sie beispielsweise durch mit zarten Bleistiftstrichen aufgelegte Profile die lautlosen Schriftzeichen auf einem alten Brief zu einem Dialog.

 

 

Damenhaft

Manchmal sind es simple Gegenstände oder Naturmaterialien, die im Sinne eines „Objet trouvé“ zum Kunstwerk werden, indem die Künstlerin sie findet und aufnimmt. Sie arbeitet eben nicht mit wie auch immer gearteten Abbildern, sondern in der Realität der Dinge erkennt sie etwas wieder. Das Fundstück präsentiert sie entsprechend isoliert oder kon- trastiert es durch ruhige Hintergründe. So konzentriert sie die Aufmerksamkeit auf das Material selbst und zwingt zum Hinschauen. Die reliefartige Oberfläche einer verbrannten Bohle erhält plötzlich eine ästhetische Dimension, lässt aber gleichzeitig an das denken, was das Feuer verzehrt hat. Eine simple Einkaufstüte verwandelt sich in eine Variation über die transzendente Farbe Blau, trägt Himmel, Meer und Weite in sich.

Fundstücke kombiniert sie auch miteinander oder ergänzt sie durch wenige malerische Eingriffe. Damit werden sie nicht nur kompositorisch zu einem neuen Ganzen gebracht, sondern erhalten auch einen über ihr ehemaliges Bedeutungsspektrum hinausweisenden erweiterten Assoziationsraum.

Körperhüllen wie der Handschuh tauchen immer wieder auf. Er ist eine Art Sinnbild für das Tasten, Fühlen und Greifen, durch das die Welt erfahren wird, und er ist Stellvertreter für den Träger, der durch Material und wechselnde Begleiter ein Gesicht erhält. Die faltige, von vielen Erlebnissen gegerbte Haut assoziiert man bei der Arbeit „Das alte Paar“. Zu sehen ist nur ein altes, brüchig gewordenes Tuch, das durch eine Naht zusammengehalten wird. Aber es gibt auch künstliche Körperhüllen wie die aus Alublechen rekonstruierte „Schuppenhaut“ eines glitzernden Fisches.

 

Vollmond

Materialien, die die Haut selbst hervorbringt, nehmen eine Sonderrolle ein. „Schürze“ und „Evas Kleid“ sind aus alten Lederbezügen herausgeschnitten. Die Tierhaut und die maleri- schen Interventionen darauf erzählen von den verflogenen inneren Bildern. Die Installation „Alptraum des Jägers“ besteht aus einem aufgespannten Elchfell, das mit vielen Augen übersät ist. Die Beute nimmt den Jäger ins Visier.

 

 

 

Haare sind ein ganz persönliches Material, das Annu Koistinen durch eine schwere, lebens- bedrohende Krankheit quasi wie von selbst in die Hände fiel. Und dennoch scheint seine Verwendung nicht nur Zufall, sondern ist so etwas wie die Fortführung feiner Bleistiftstriche in die dritte Dimension. Ähnlich wie die aufgeplatzten, patinaartigen Oberflächen machen auch die Haarbüschel den stetigen und manchmal abrupt endenden Wandel aller Dinge deutlich. Das setzt sich auch in den Arbeiten in Vlies und Filz fort. Hier sind es Tierhaare, die zu einem festen Stoff gewalkt werden. Das Material besticht durch die natürlich unregel- mäßige Struktur sowie die Farbverläufe und lässt sich leicht auseinanderreißen. Bei dieser Art der Teilung fransen die Ränder aus und die feinen Härchen werden sichtbar. Wobei man sich nicht sicher ist, ob die Künstlerin nicht auch eigene Haare untergemischt hat. Titel wie „Auflösung“, „Blutgefäß“ und „Mitose“ machen den Bezug zum Körper und der Zellteilung als Ursprung des Lebens deutlich.

Felder

 

Eine Art künstliches Fell schafft Annu Koistinen mit ihren aktuellen Arbeiten, bei denen sie dicht an dicht Papierband auf Leinwand oder Holzplatten knüpft. Wie echte Haare und Felle schafft auch diese Technik eine sinnliche Stofflichkeit und Volumen auf der Fläche. Die akkuraten Grenzen der geometrischen Grundformen, die das Raster für die Einknüpfungen vorgeben, werden so verunklart und fallen eher weich und organisch aus, so als hebe sich die Leinwand unter den Atemzügen eines Lebewesens. Bei anderen entstehen die Formen allein aus den leeren Knüpflöchern. Die Reihe „Insel Alvari“ ist eine Hommage an den großen finnischen Architekten und Designer Alvar Aalto, der von der Natur abgeleitete organische Formen z.B. der Welle in seinen Entwürfen verwendete.

So abstrakt die geometrischen Formen bei Annu Koistinen auch erscheinen mögen, sie stellt nicht zuletzt über den Titel immer auch einen Bezug zu Natur und Kosmos her. Der Kreis, ob aus Papierband geknüpft oder als CD gesetzt, verweist auf Sonne, Mond und Planeten, das Rechteck auf Felder, Landschaft und Raum.

Bei den langen Streifen von Luftpolstern, die sie penibel aufgereiht in Holzrahmen gespannt hat, ist es die Farbe, die die Airpads als lebendige, atmende Körper umhüllt und die sich gegen das Sicherheit versprechende, rechteckige Raster widersetzt. Die Farbe blättert ab, zerbröselt auf der glatten Plastikoberfläche, als ob Wasser, Erde, Luft und Feuer nicht nur durch sie beschworen würden, sondern die Naturelemente selbst die Farbe abgewa- schen, weggeblasen, abgeflämmt oder vergilbt hätten. Das sterile, portionierte Plastik ent- puppt sich in der Bearbeitung von Annu Koistinen als unbezähmbares, unbeherrschbares Medium.

Schlüsselvorrat

In den Themenkreis der erinnerten Vergänglichkeit gehören ihre Matratzen-Objekte, in deren metallenen Spiral-Gittern sich Spuren menschlicher Zivilisation verfangen haben.

Bei der Arbeit „Schlüsselvorrat“, die im Herbst 2015 im Rahmen einer Wanderausstellung anlässlich des 70. Jahrestages der Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen gezeigt wurde, sind viele verschiedene Schlüssel zwischen den Drähten eingewoben. An ihrer praktischen Funktion, etwas ab- und aufzuschließen, entzündet sich die ambivalente Symbolkraft des Schlüssels: er steht einerseits für die Möglichkeit, etwas wegzusperren, es der allgemeinen Sichtbarkeit oder dem Zugriff durch andere zu entziehen, um ein Geheimnis zu bewahren, etwas zu vertuschen oder gar zu beenden. Andererseits steckt in ihm die Möglichkeit der Befreiung, des Neubeginns und der Lösung, eben Verborgenes wieder sichtbar zu machen und sich Raum zu erschließen. Die verwirrende Vielzahl der Schlüssel steht daher nicht nur für die verschiedenen Situationen und Individuen, sondern auch für die komplexe Suche nach dem jeweils passenden.

Was nicht durch die Maschen fiel

Bunter und heiterer ist das zweite Objekt nach ähnlichem Prinzip. Hier sind es Souvenirs von den Kindern der Künstlerin, die im feinen Netz balancieren: ein Minikarussell, ein klei- ner Rabe, Schlüsselanhänger, dies und das, an dem Kinderherzen hingen – jetzt die Erin- nerung der Künstlerin als Mutter.

„Der Raum, die Sachen/Dinge, die wir erleben, sind in unseren Köpfen“, sagt Annu Koisti- nen. „Dies auf der Bildfläche sichtbar zu machen befreit.“ Dabei wird man selbst zum ein- zigen Fixpunkt, denn Außenraum und Innenraum sind körperliche Erfahrungen. Vielleicht ist gerade deshalb das Haptische, der sinnliche Eindruck von Materialien und Stoffen für Annu Koistinen von so elementarer Wichtigkeit.

© Jutta Saum, Oktober 2017